Rhythmus als Grundlage von Musik





Seit jeher setzt der Mensch Rhythmen in Bewegung und Musik in Tanz um. Beide nonverbalen Kommunikationsmethoden sind integraler Bestandteil vieler bestehender Religionen. Andere -alte wie neu gegründete - Religionen entdecken derzeit die Einsatzmöglichkeiten von Musik und Tanz. Der folgende Artikel geht auf die Entstehung des (religiösen) Tanzes ein und stellt seine vielfältigen Erscheinungsformen und Funktionen dar. Einen Schwerpunkt erhält dabei die Bedeutung der Musik für den Tanz.

Von Rhythmus und Bewegung zu Musik und Tanz
So wie der Rhythmus als Grundlage von Musik bezeichnet werden kann, lässt sich die Bewegung als Basis des Tanzes bezeichnen. Beide - Rhythmus und Bewegung - trägt der Mensch einerseits in sich: sein Herz gibt fortwährend einen Rhythmus vor und jede auch noch so instinktiv ausgeführte Handlung ist Bewegung. Andererseits umgeben den Menschen ständig Rhythmen und Bewegungen von außen: die Länge von Tagen oder Jahreszeiten, Regenprasseln, Vogelgezwitscher bzw. das Wiegen eines Baumes im Wind, das Fließen eines Baches, das Galoppieren eines Pferdes. In den meisten dieser natürlichen Phänomene sind Rhythmus und Bewegung untrennbar miteinander verbunden.

Vor der Entstehung einer gesprochenen Sprache verständigte der Mensch sich mit groben Gesten (Bewegung), später dann begleitet von einfachen Lauten (Rhythmen). Die Einheit beider - die rhythmische Bewegung - wird entsprechend auch als "Urphänomen"(1) bezeichnet wird. Sei es durch Verstärkung und Ausdifferenzierung der dem Menschen innewohnenden Rhythmen und Bewegungen oder Imitation der den Menschen umgebenden Rhythmen und Bewegungen, die Voraussetzungen für Tanz waren gegeben: "When gestures and body movements began to fall into a regular or irregular pattern, caused by the occurrence of accented beats and movements, man had created dance."(2)
Musik (ausdifferenzierte Rhythmen) und Tanz (ausdifferenzierte Bewegungen in der Regel zu Rhythmus bzw. Musik) haben einen gemeinsamen Ursprung: die Natur des Menschen selbst und seine Umwelt. Mit beiden Methoden vermag der Mensch nonverbal zu kommunizieren, untereinander, mit seiner Umwelt, übernatürlichen Wesen, Gottheiten usw. Da religiöse Erfahrung und religiöser Ausdruck sich nur bedingt verbalisieren lassen, erschienen dem Menschen von jeher Musik und Tanz sowohl als geeignete Erfahrens- als auch als adäquate Ausdrucksmedien.

Kein Medium ist mit dem Menschen jedoch so eng verknüpft wie die Bewegung. Ein Leben ohne Bewegung ist nicht möglich, entsprechend "bewegt" nichts den Menschen so sehr wie die Bewegung bzw. der Tanz. Infolgedessen wird der Tanz oft als "ursprünglichste Lebensäußerung"(3) oder "Mutterkunst"(4) bezeichnet.
Es ist müßig darüber zu urteilen, ob heute Musik oder Tanz für die Religion von größerer Bedeutung sind. Neben persönlichen Vorlieben und Talenten des einzelnen Gläubigen geben stets auch religiöse Tradition und Sozialisation den Ausschlag.

Die Weiterentwicklung des Tanzes
Das heutige (westlich-christliche) Tanzverständnis
Zur Definition von Bewegung und Tanz
Die Vielseitigkeit religiösen Tanzes
Die Bestimmung eines Tanzes als religiöser Tanz
Die Bedeutung von Rhythmus und Musik im religiösen Tanz
Religiöser Tanz im heutigen Deutschland
  • Meditative und liturgische Tänze im christlich-kirchlichen Bereich als Basisbewegung,
  • Tänze in Frauenritualgruppen mit Bezug zur Natur und vor- bzw. außerchristlichen Religionen,
  • Einsatz von Tanz im therapeutischen Bereich mit Anlehnung an verschiedene religiöse Traditionen,
  • Professioneller Bühnentanz mit der Umsetzung geistlicher Musik und/oder religiösen Themen sowie der Entdeckung der Kirchen als Auftrittsorte.
  • Von Migranten in ihrem Gemeindeleben als Bindeglied zur Heimatkultur (z.B. tamilische Hindus, nordamerikanische Indianer, osteuropäische Juden),
  • Von Migranten oder Gastkünstlern professionell und öffentlich auch für deutsche Zuschauer (z.B. klassischer indischer Tanz, tanzende Derwische),
  • Von Deutschen als Zugang zur fremden Religion/Kultur (z.B. klassicher indischer Tanz, hawaiianischer Hula),
  • Von Deutschen in abgewandelter Form für eigene (z.T. nicht religiöse) Bedürfnisse (z.B. orientalischer und afrikanischer Tanz).
  • Es wird nicht für eine Gottheit o.ä. getanzt, sondern in erster Linie für sich selbst (Ausgenommen sind professionelle Tänzerinnen und Tänzer einer Kompanie, die aufgrund ihrer vertraglichen Verpflichtung die Ideen von Choreographinnen oder Choreographen umsetzen müssen).
  • Es wird nicht integriert in der gesamten Gesellschaft getanzt oder dem Tanz zugeschaut, sondern es schließen sich kleine Gruppen von Gleichgesinnten zusammen.
  • Es gibt keine Tanztradition, in die man hineingeboren wird; heute in Deutschland religiös zu tanzen oder Religiösem Tanz zuzuschauen ist eine bewusste Entscheidung.
Literaturverzeichnis
Lexikaartikel
Monographien, Zeitschriften
Webseiten
Anmerkungen
  1. Richard Espenschied, Heilsame Kräfte im Tanz? in: Heyer: Der Tanz in der modernen Gesellschaft, S. 51.
  1. Hall, Dance - A Complete Guide, S. 4.
  1. Schimmel, Tanz, I. Religionsgeschichtlich, in: RGG, Bd. 6, Sp. 612.
  1. Sachs, Eine Weltgeschichte des Tanzes, S. 1.
  1. Vgl. im folgenden: Tillman Hall, Dance - A Complete Guide, S. 3f und Koch, Salomes Schleier, S. 11-23.
  1. Vgl. Hoffmann, Tanz, Trance, Transformation, S. 93.
  1. Vgl. Koch, Salomes Schleier, S. 11.
  1. V.d. Leeuw, In dem Himmel ist ein Tanz, S. 6f.
  1. V.d. Leeuw, Phänomenologie der Religion, S. 423.
  1. Sequeira, Spielende Liturgie, S. 169ff.
  1. Günther, Der Tanz als Bewegungsphänomen, S. 19.
  1. Zu bisherigen Systematisierungen Gundlach Sonnemann, Religiöser Tanz. Formen. Funktionen, S. 45-48
  1. Zur detaillierten Beschreibung der einzelnen Komponenten des Vier-Determinante-Modells Gundlach Sonnemann, Religiöser Tanz. Formen. Funktionen, S. 48-63
  1. V.d. Leeuw, Vom Heiligen, S. 24.
  1. V.d. Leeuw, Im Himmel, S. 13.
  1. V.d. Leeuw, Vom Heiligen, S. 50.
  1. Über den Einfluß der Komponenten auf die Religiosität eines Tanzes ausführlicher Gundlach Sonnemann Religiöser Tanz. Formen, Funktionen, S. 122-127.
  1. siehe auch Gundlach Sonnemann: Religiöser Tanz. Formen. Funktionen, vor allem S. 106-121.
  1. Sequeira Spielende Liturgie, S. 128-135; Gisela von Naso, Christa Sengesspeick-Roos, Rolf Geissler Mit Leib und Seele beten, in: Kreutz (Hrsg.) Mut zu Bewegung und Tanz, S.107-110.
  1. Ausführlicher Gundlach Sonnemann Religiöser Tanz im heutigen Deutschland.
  1. Damit ist nicht die Staatsangehörigkeit sondern die religiös/kulturelle Sozialisation gemeint.
  1. Zur Problematik der Erforschung religiösen Tanzes Royce, The Anthropology of Dance, S. 7ff. und Gundlach Sonnemann New Approaches to the Study of Dance.

Die anthropologische Forschung(5) geht davon aus, dass zunächst der gesamte Körper zur Kommunikation eingesetzt wurde, da eine Verfeinerung der Bewegungen von bestimmten Körperteilen sich erst im Laufe der Zeit entwickelte. Mit einem Minimum an Aufwand, nämlich nur dem eigenen Körper, kann der Mensch (ebenso wie Tiere), in einer Art "Minimalsprache" etwas in einfacher Form mit dennoch hoher komprimierter Aussagekraft zum Ausdruck bringen. Erst Symbolisierung und rituelle Formalisierung ermöglichen eine zielorientierte Einsetzung der Bewegung zur ausdifferenzierteren Kommunikation. Der Tanz diente und dient dazu, sich mit sich selbst, seinen Mitmenschen, seiner Umwelt und allem Unerklärbaren(6) auseinander zusetzen.

Vor allem in sog. Face-to-face-Gesellschaften, d.h. in Gesellschaften mit kurzen, übersichtlichen Interdependenzgeflechten und starken gültigen Orientierungsmustern, zeigt sich der Tanz als integraler Bestandteil kultureller Repertoires und jeweiliger Kosmologien.(7) Die Möglichkeit sich mittels des Tanzes dem Transzendenten zu nähern drückt sich auch in den Vorstellungen einiger Religionen aus, dass der Tanz direkt von Göttern gebracht wurde (z.B. Hinduismus, diverse südamerikanische Naturreligionen).

Unterschiedliche Formen und Funktionen des Tanzes werden sich mit der Ausprägung der Kulturen, allein schon bedingt durch geschlechts-, erwerbs- oder fähigkeitsbedingte Rollenaufteilungen, "relativ" schnell ergeben haben. Auch heute ist bei sog. Naturvölkern, die häufig zur Erklärung früherer Kulturen herangezogen werden, eine Vielzahl von Formen und Funktionen im Tanz feststellbar. Der enorme Stellenwert des Tanzes zeigt sich z.B. daran, dass in vielen Kulturen, die, die nicht tanzen können (Kinder, Ermüdete, Alte, menstruierende Frauen etc.), auf die Schultern gehoben werden und somit "getanzt werden", um dabei zu sein. Der Tanz ist völlig in das Leben integriert und selbstverständlich.

In der weiteren Entwicklung der Menschheit kam es zur Differenzierung, zur Trennung, zur Spezialisierung im Leben, so dass v.d. Leeuw bedauernd feststellt: "Die Einheit des menschlichen Lebens ist hoffnungslos verloren gegangen, [...] alles ist spezialisiert worden: [...] Und so kennen wir zwar verschiedene Arten von Tanz, aber der Tanz als Lebensfunktion in selbstverständlicher und enger Verbindung mit anderen Äußerungen unserer Seele existiert nicht mehr. [...] Man muß immer von einem Gebiet ins andere gehen, während der primitive Mensch, wenn er auf einem Gebiete ist, sich gleichzeitig auf allen anderen befindet. [...] Der primitive Mensch betet und tanzt zur gleichen Zeit."(8) Selbst wenn der Tanz in sog. primitiven Kulturen verschiedene Formen und Funktionen kennt, lassen sich diese letztendlich nicht voneinander trennen. "Tanz ist nicht eine Beschäftigung, die neben anderen Betätigungen existiert, er ist dem primitiven Menschen Arbeit und Genuss, Sport und Kult zugleich."(9)
Als ein Grund für den Rückgang von Bewegung und Tanz als Kommunikationsmittel wird in westlichen Industriegesellschaften die zunehmende Technisierung angesehen. Einfache rhythmische Arbeitsabläufe und Fortbewegungsarten wie Hämmern, Weben, Rudern geben sog. Urrhythmen vor, die dem Tanz zugrunde liegen. Durch die Übernahme dieser Tätigkeiten von Maschinen verliert der Mensch sein natürliches Rhythmus- und Körpergefühl, er drückt sich nicht mehr durch den Körper aus.

Zu der Verbannung von Tanz und Bewegung aus der Ganzheit des Menschen und seiner Gesellschaft hat wesentlich auch das Christentum beigetragen. Das AT erwähnt noch mehrfach den Tanz, wenn auch nicht in besonders ausdifferenzierter Form. In den ersten Jahrhunderten n.Chr. prägte sich jedoch zunehmend die Vorstellung von der Trennung von Körper und Geist und der damit einhergehenden Abwertung des Leibes, vor allem des weiblichen, als Ursache der Sünde, aus. Alles Körperliche und damit auch der Tanz wurde pauschal als etwas Negatives angesehen. Mit strickten Verboten versuchte man sowohl dem Tanztreiben innerchristlicher, sog. häretischer Strömungen als auch sog. heidnischen Völker, die es zu missionieren galt, Einhalt zu gebieten. Denn im Tanz galten die Massen als unkontrollierbar. Anders wurde die professionelle, strengen Regeln unterworfenen bildliche und musikalische Darstellung biblischer Themen, eingestuft. Sie wurde zum Zwecke der Verkündigungsaufgabe von der Kirche gefördert. Die Gläubigen selbst blieben allerdings auf die Rolle des passiven Betrachters bzw. Zuhörers beschränkt.

Aus den beschriebenen Umständen resultiert für die westlich-christliche Welt ein Verständnis von Tanz, das ihm keinen Raum mehr als natürliche Lebensäußerung bzw. religiöses Medium einräumt. Tanz ist für die Massen auf den Freizeit-, Sport und Gesellschaftsbereich beschränkt. Doch auch dort bewegt sich der Mensch keineswegs natürlich. Er muß eine bestimmte Tanzform erst lernen, sonst kann er nicht tanzen. Eine derartige Äußerung wird man bei sog. Naturvölkern kaum vernehmen. Als hohe Kunst wird perfektionierter Bühnentanz wie das klassische Ballett verstanden. Nur wenige beherrschen es, das Publikum bleibt auf die Rolle des bewundernden aber letztlich ausgeschlossenen Betrachters reduziert. Das bedeutet, dass in beiden Bereichen - beim Ballett auf der Bühne oder beim Wiener Walzer auf der Betriebsfeier - das entscheidende Kriterium, das einen Tanzenden von einem Nichttanzenden unterscheidet, nicht mehr die Lust sondern die Perfektion ist. Körper und Geist drücken sich nicht mehr als natürliche ungezähmte Einheit aus, sondern der Geist zähmt seinen Körper in bestimmte erlernte, gesellschaftlichen Konventionen unterworfenen Tanzformen.

Auch die wissenschaftliche Erforschung religiösen Tanzes war in der Vergangenheit stark von der vermeintlichen Unvereinbarkeit von Religion und Tanz geprägt. Folglich konzentrierten sich theologische wie religionswissenschaftliche Untersuchungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert - wenn überhaupt - auf Tänze sog. Naturvölker (z.B. Afrika, Polynesien), ausdifferenzierte Tempeltänze (z.B. Indien, Thailand), mythologische Erwähnungen (z.B. griech. Antike) oder Zitate in heiligen Schriften (z.B. Altes Testament). Zeitgenössisches Tanzgeschehen im eigenen Land wurde und wird kaum zur Kenntnis genommen.
Durch Einblicke in "tanzende" außerchristliche Kulturen, sei es durch Filmberichte, eigene Reisen, Migranten oder Gastkünstler, die ihre Tänze öffentlich darbieten sowie einem generellen ganzheitlichen Trend und Infragestellen bisheriger Lebensgewohnheiten wird in Deutschland zunehmend auch in religiösen Kontexten getanzt.

Mag es vielleicht Musik geben, die weder einen hörbaren Rhythmus hat, noch einen, den die Musiker innerlich spüren und auf dessen Gerüst sie einzelne Tonfolgen spielen, so ist Tanz ohne Bewegung nicht denkbar. Als Unterschied zwischen Bewegung und Tanz wird allgemein angesehen, dass der Tanz eine qualitativ erhöhte Form der Bewegung ist oder nicht zwingend notwendige Bewegungen ausführt. Im hiesigen Sprachgebrauch bezeichnet Tanz in der Regel einen erlernten, festgelegten, ausdifferenzierten Bewegungsablauf. Der Begriff des Tanzes ist in der Literatur nicht klar definiert. Gleiches gilt für Begriffe wie Gebärde und Geste und auch die Einführung synonym gebrauchter Begriffe wie "Ausdrucks- und Handlungsbewegung"(10) und "Körpersprache"(11) vereinfacht die Angelegenheit nicht. Teilweise wird der Begriff Tanz bewusst vermieden, was nach dem oben beschriebenen westlich-christlichen Tanzverständnis verständlich ist. Die Aufforderung, in einem Gottesdienst zu tanzen hat daher häufig eher abschreckende Wirkung. Der Vorschlag sich an gleicher Stelle zu bewegen, wird mit weniger Vorbehalten akzeptiert.

Bei fließenden Übergängen stellt sich die Frage, ist "es" noch Bewegung oder schon Tanz? Wenn man argumentiert, dass Bewegungen nur um ihrer selbst willen ausgeführt werden und nicht, um zielgerichtet von einem Ort zum anderen zu kommen, richtet sich die Einordnung nicht an der Beschaffenheit des Bewegungsablaufes selbst, also einer bestimmten Technik, sondern nur an seiner Motivation aus.
Neben der Abgrenzung zu zahlreichen tanzähnlichen Bewegungsformen wird die Suche nach einer allgemeingültigen Definition durch unterschiedliche Tanzverständnisse und -begriffe in den einzelnen Kulturen erschwert. Einige Sprachen kennen mehrere nicht identische Tanzbegriffe (z.B. span. danza für rituellen und baile für säkularen Tanz), andere umfassen auch Bereiche, die wir nicht dazu rechnen (z.B. mexikan-mixtec yaa für Tanz, Musik und Spiele).

Bisherige Systematisierungsversuche von religiösem Tanz (z.B. Oesterley, Sachs, v.d. Leeuw, v. Baaren) stellten entweder eine Form oder eine Funktion in den Vordergrund.(12) Dabei berücksichtigen sie weder, dass mit der Gliederung nach Formen nichts über die Funktion ausgesagt wird (und umgekehrt), dass ein Tanz gleichzeitig mehrere Funktionen haben kann, die sich teilweise auf unterschiedlichen Ebenen abspielen, und dass damit noch keinerlei Angaben über die Beteiligten und bestimmte Methoden oder Hilfsmittel gemacht werden. Das nachfolgend dargestellte Vier-Determinanten-Modell ermöglicht in einer umfassenden Momentaufnahme unendlich viele Komponenten eines religiösen Tanzes übersichtlich darzustellen.(13)
Die Bezeichnung Religiöser Tanz lässt vermuten, dass er von Nichtreligiösem Tanz klar zu trennen ist.
Aus der Beschäftigung mit Religiösem Tanz in verschiedenen menschheitsgeschlichen Entwicklungsstufen, ergibt sich das Problem, dass ein in Industrienationen verwendeter Religionsbegriff nicht oder nur bedingt auf sog. Naturvölker übertragbar ist. So schreibt v.d. Leeuw: "Alle primitive Kunst ist religiös, aber nicht in dem Sinne, dass sie absichtlich religiösen Zielen gewidmet ist. Sie ist vielmehr als solche religiös, auch dann, wenn spezielle religiöse Zielsetzungen fehlen."(14) Denn, wenn der "Tanz als Größe für sich" mit allen Lebensgebieten in Verbindung steht, aber "diese Lebensgebiete selbst nicht scharf voneinander getrennt sind, ist er im Grunde genommen wesentlich religiös"(15). Demnach kann es keine auf alle Zeiten und Entwicklungsphasen anwendbare allgemeingültige Definition von Religiösem Tanz und Abgrenzung zu Nicht-Religiösem Tanz geben. Dabei taucht die Frage auf, ab wann ein Tanz nicht mehr religiös ist, wenn "allerlei Formen des profanen Tanzes auf ihren religiösen Ursprung zurückgeführt werden können"(16)?

Einfacher wird die Definition von Religiösem Tanz aber auch regional, kulturell und zeitlich begrenzt (z.B. Deutschland in der Gegenwart) nicht. Das Kriterium der Anbindung an eine bestehende institutionalisierte Religion lässt nicht den Blick auf neu entstehende Formen außerhalb etablierter Religionen zu. Aber gerade das ist charakteristisch für die gegenwärtige religiöse Tanzszene Deutschlands.

Zudem ist religiöser Tanz aus zahlreichen im Vier-Determinanten-Modell beschriebenen Komponenten zusammengesetzt, die wiederum selbst von unterschiedlicher religiöser Signifikanz sein können, und das für jeden einzelnen Beteiligten (Tänzer, Choreographen, Zuschauer) in unterschiedlicher Stärke. Hier wären zu nennen Inhalt/Thema, Schritte/Gestik/Mimik, Kostüm/Maske/Requisiten, Datum/Anlass und Raum(17) und natürlich nicht zu vergessen Text, Gesang und Musik wie nachfolgend ausführlicher beschrieben.

Die meisten Menschen können sich einen Tanz ohne Musik nicht vorstellen, sie benötigen die Musik, um zum Tanzen bewegt zu werden. Neben der angesprochenen "Ur-Verknüpfung" von Rhythmus und Bewegung lässt sich der Bedarf an vorgegebener Musik sicher auch auf Gewohnheiten zurückführen. Es ist durchaus möglich, nach einem inneren, selbst erzeugten Rhythmus zu tanzen. Verfügt eine Gesellschaft aber über ständig präsente professionelle Musiker oder Abspielmöglichkeiten konservierter Musik, verkümmern Fähigkeiten, selbst einen Rhythmus oder eine ganze Musik zu denken, zu fühlen oder hörbar zu erzeugen.
Vor allem getrommelte Rhythmen sind ein häufig eingesetztes Mittel, um Menschen in Trance oder Ekstase zu bringen (z.B. tanzende Derwische). Denn wenn der Tanzende den Rhythmus nicht mehr selbst beherrscht, kann der Rhythmus den Tanzenden beherrschen. Dies gilt auch wenn er ihn durch gleichmäßiges Aufstampfen o.ä. weiterhin selbst erzeugt.
Rhythmen können zudem eine Art Gemeinschaftsgefühl schaffen, selbst wenn die Tanzenden sich untereinander kaum oder gar nicht kennen (ein Phänomen, das auch bei Popkonzerten deutlich wird).

Ihre stärkste Wirkung erreicht die Musik sicher da, wo sich der Tanzende nicht nur verführen lässt, sondern auch noch im Glauben ist, aus freien Stücken mitzumachen. Musik kann gezielt eingesetzt werden, u.U. ohne dass sich die Tanzenden dieser "Manipulation" bewusst sind (z.B. bei Tanztherapien wie Biodanza und einigen sog. Sekten / Psychogruppen)
Wird die Musik vom Tanzenden bereits mit religiösen Thematiken in Verbindung gebracht, ist er sich zwar bewusst, auf welchen Weg er sich begibt, nicht aber über die Intensität der Gefühle, die durch die Musik und gleichzeitige Bewegungen in ihm hervorgerufen werden können.

Ob sich der Tanzende der Wirkung von Musik bewusst ist oder nicht, sie kann ihm das Sich-Hingeben in eine religiöse Stimmung erleichtern, beschleunigen und verstärken.
Der Einsatz von religiöser Musik erhält eine besondere Bedeutung für Religionen, in denen bislang nicht getanzt wurde, wie z.B. dem Christentum. Denn (religiöse) Tanzmusik motiviert nicht nur, sie legitimiert auch. D.h. dass für die Tänzerinnen und Tänzer einer meditativen Kreistanzgruppe einer christlichen Gemeinde eine Verbindung zu Gott und christlichen Aussagen im Tanz leichter herzustellen ist, wenn als Musik Oratorien, Kirchenlieder oder Taizé-Gesänge verwendet werden als z.B. rumänische Folklore oder moderne U-Musik.
In der letzten Zeit wurden zunehmend religiöse oder besser gesagt explizit christliche, geistliche Musik von professionellen Tanzkompanien vertanzt. Eines der bekanntesten Beispiele ist 1981 uraufgeführte Umsetzung der Bachschen Matthäus-Passion von John Neumeier mit dem Hamburger Ballett.(18) Sofern die Musik Bachs bekannt ist oder zumindest als christliche Musik erkannt wird, können Tänzerinnen, Tänzer, Choreograph und Publikum automatisch in eine religiöse Stimmung versetzt werden, selbst wenn sie nicht der christlichen Religion angehören sollten. Eine Musik, die bislang nur gehört wurde, plötzlich in Bewegung selbst zu fühlen oder anderen dabei zuzusehen (und sich innerlich mitbewegen zu lassen), war für viele Beteiligte ein großes, wenn auch umstrittenes Erlebnis.

Werden komplexe religiöse Inhalte tänzerisch auf der Bühne umgesetzt, ist der Einsatz bekannter religiöser Musik u.U. auch aus Gründen des besseren Verständnis der Bewegungen seitens der Zuschauer ratsam. Anders als z.B. der Hinduismus, der in klassischen indischen Tänzen wie Bharata Natyam eine ausdifferenzierte Tanzsprache entwickelte, die vom Zuschauer auch ohne unterstützende Musik verstanden wird, verfügt das Christentum über keinen allseits bekannten Bewegungskanon. Der Choreograph ist gezwungen neue Gesten, Posen und Schrittfolgen zu erfinden. Diese werden vom Publikum aber (noch) nicht als für sich verständliche religiöse Aussagen identifiziert.

Der Einsatz bekannter Musik, im Idealfall mit entsprechendem Text erleichtert dem Publikum das Verständnis des Tanzes. Zuweilen werden gesprochene oder gesungene Texte, vor allem in Gebeten, beinahe Wort für Wort "übersetzt". Die Ergebnisse ähneln der Gebärdensprache (z.B. vertanztes Vater Unser[19]).
Natürlich kann religiöse Musik aus Unkenntnis, Provokation oder gezielter Negierung der eigentlichen Bedeutung auch bewusst profan eingesetzt werden. Eine getanzte Präsentation von Dessous-Moden in einer Diskothek zu gregorianischen Gesängen würde wohl kaum einer der Zuschauer als religiösen Tanz interpretieren.

Es wird deutlich, dass die Wahl der Musik für einen religiösen Tanz von entscheidender Bedeutung sein kann. Dennoch muß ein Tanz nur aufgrund religiöser Musik nicht automatisch religiös sein.
Noch nie war das Angebot und die Nachfrage an Religiösem Tanz so groß und so vielfältig. Religiöser Tanz im heutigen Deutschland lässt sich in zwei Bereiche einteilen:(20)

1. Tänze, die in Deutschland bzw. der westlich-christlichen Kultur entstanden sind oder derzeit entstehen:
2. Tänze die aus anderen Kulturen oder Religionen nach Deutschland kommen:

Werden die Tänze von Deutschen(21) ausgeführt, lässt sich folgender Trend ausmachen:
In diesen drei Punkten spiegeln sich der Wunsch nach Ganzheitlichkeit und Frieden (mit seinem Körper und Geist, anderen Menschen, der Religion einschließlich Gottheiten, der Natur, dem Universum); die Angst mit dem Leben verstandesmäßig nicht zurecht zu kommen (Technisierung, Arbeitslosigkeit, Übersättigung, Isolierung, Globalisierung, Wegbrechen traditioneller Werte u. gesellschaftlicher/politischer Strukturen); der Bewegungsdrang aufgrund kopflastiger Arbeiten, der sich nicht nur auf den rein sportlichen Bereich beschränkt; die Neugier nach anderen Ausdrucks- und Erfahrungsmöglichkeiten und schließlich die Unzufriedenheit mit dem bisherigen als nicht mehr zeitgemäß und zu kopflastig empfundenen Angebot vorhandener Religionen.
So schwierig die Erforschung religiösen Tanzes sein mag,(22) bereits aus dem Vorhandensein verschiedenster Arten Religiösen Tanzes lassen sich Schlüsse über die Beschaffenheit einer Gesellschaft ziehen. Alle Aspekte der gegenwärtigen religiösen und gesamtgesellschaftlichen Situation Deutschlands spiegeln sich in der dargestellten Bandbreite Religiösen Tanzes in Deutschland wieder.

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